Alles nur weil Weihnachten ist?

„Gib das her, dass ist meins“, fauchte die neunjährige Sina ihren kleinen Bruder Philipp an. Erschrocken über die klare Ansage seiner großen Schwester, dauerte es nicht lange, bis bei dem Sechsjährigen die Tränen kullerten. Philipp begann zu schluchzen und in seinen glasigen Augen spiegelten sich die Lichter des Tannenbaums wider.

   „Sina“, mahnte die Mutter mit ernsten Worten. „Was ist denn jetzt schon wieder los?“

   Sie erhob sich vom Esstisch und machte sich auf den Weg zu den beiden Kindern. Sowohl der Vater als auch die beiden Großmütter, die jedes Jahr am Heiligabend bei ihren Kindern zu Gast waren, schauten zusehends genervt.

   „Das sind meine Sachen, die soll er in Ruhe lassen“, verteidigte sich das Mädchen. Ihr herrischer Ton ließ die Tränen bei ihrem Bruder umso schneller kullern.

   „Aber mein Schatz“, beschwichtigte die Mutter. „Was ist denn los? Du bist schon die ganze Zeit so unausstehlich. Seitdem wir in der Kirche waren.“

   Sina senkte ihren Blick.

   „Freust du dich denn gar nicht? Heute ist doch das Fest der Weihnacht. Es gab viele Geschenke für euch und gerade an diesen Tagen sollte man doch besonders liebevoll miteinander umgehen.“

   Unvermittelt hob das Mädchen ihren Kopf.

   Ihr Blick war nun ebenfalls traurig, wenn auch anders als bei ihrem kleineren Bruder noch keine Tränen kullerten.

   „Aber das ist doch alles... verlogen.“

   „Wie bitte?“, war die Mutter verwirrt. „Was meinst du damit?“

   „Na dieses ganze Getue um Weihnachten und dass man an diesen Tagen doch besonders liebevoll miteinander umgehen sollte“, ergänzte Sina und vergrößerte damit die Verwunderung nur umso mehr. Auch die übrigen Erwachsenen hatten die Worte aufgeschnappt. Bemühte sich der Vater auch darum, die beiden Großmütter weiter zu unterhalten, lauschten alle unvermittelt, was die Neunjährige da gerade von sich gab.

   Der war die plötzliche Aufmerksamkeit eher unangenehm und so senkte sie ihren Blick erneut und es schien, als wollte sie am liebsten im Boden versinken.

   Aber da nahm die Mutter das Gesicht ihrer Tochter liebevoll in die Hände und zog ihr Gesicht zu sich heran.

   „Hey, mein Schatz“, war die sanfte Stimme der Mutter zu hören. „Was beschäftigt dich denn?“

   Ein tiefer Seufzer klang auf, wie man ihm von einem so jungen Menschen am Abend des Festes der Liebe eigentlich nicht hören möchte.

   Danach folgte Stille.

   Da gab die Mutter ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn und zog sie an sich heran.

   Nur einen Moment später schmiegte sich auch Philipp auf der anderen Seite an die Mutter heran. So verharrten die drei einen Augenblick in Stille und auch am Esstisch wurde kein Wort mehr gesprochen. Stattdessen schauten die beiden Omas und der Vater verzückt auf die Drei dort, in diesem innigen Moment versunken, wo auf einmal der Geist der Weihnacht fast zum Greifen schien.

   „Weißt Du“, unterbrach Sina nach einem Moment die Stille. „Heute an der Kirche, da war doch dieser Mann vor der Kirche, der um eine Spende gebeten hat.“

   Die Mutter nickte wissend.

   „Mir tat er ja so leid und daher habe ich doch Papa gebeten, mir etwas Geld zu geben.“

   „Ja, ich erinnere mich“, bestätigte die Mutter.

   „Als ich ihm das Geld in seinen Hut geworfen hatte und ich wieder zurück zu euch ging, sprach mich ein älteres Paar an.“

   Sina machte eine kurze Pause.

   „Sie sagten, das hätte ich nicht tun sollen. Dieser Mann würde das nur aussitzen, weil Weihnachten ist, um möglichst viel abzusahnen.“

   „Das waren bestimmt die ollen Schröders“, keifte die eine Oma vom Esstisch plötzlich dazwischen. „Die sind so geizig, als hätten sie einen Igel in der Tasche. Nur nicht reingreifen, könnte ja wehtun!“

   „Mutter“, ermahnte der Vater. „Es ist Weihnachten.“

   „Na und? Die sind trotzdem geizig. Die gönnen niemanden was und jetzt gehen sie deine Tochter an und...“

   „Es reicht, ok?!“, wurde der Vater nun etwas deutlicher.

   „Genau das meinten die Leute“, rief Sina nun dazwischen und sorgte für ein verwundertes Gesicht bei den Erwachsenen. „Sie sagten, der Bettler nutzt nur aus, dass Weihnachten ist. An Weihnachten machen immer alle auf Gefühle, tun besonders liebevoll und tatsächlich ist den Menschen doch ganz egal, wie es anderen geht.“

   Sina schmiegte sich wieder dichter an ihrer Mutter an, währen Philipp längst wieder größeres Interesse an seinen geschenkten Spielsachen hatte und sich damit munter beschäftigte.

   „Wenn das so ist, dass wir nur an den Weihnachtstagen an andere denken, dann...“, wieder kam ein Schluchzer auf. „...ist das doch alles irgendwie unecht und verlogen.“

   Die Mutter strich ihrer Tochter samt übers Haar.

   Die beiden Omas und der Vater schwiegen betroffen am Esstisch.

   „Und das macht dich traurig, weil alles wie eine Lüge auf dich wirkt?“, erkundigte sich die Mutter und streichelte dabei weiter sanft ihrer Tochter über den Kopf.

   „Irgendwie ja“, antwortete Sina. „Wir reden immer von Weihnachten, dass wir Kinder da besonders brav sein sollen, es vielleicht sonst keine Geschenke gibt, es eine so besondere Zeit ist. Aber wieso sollen diese Tage so besonders sein, wenn sonst doch alles egal ist?“

   Das neunjährige Mädchen konnte es nicht sehen aber ihre Mutter nickte leicht.

   Auch die drei Erwachsenen am Esstisch waren sichtlich von den Worten des Mädchens berührt.

   Nach einem Moment war es an der Mutter, den Raum der Ruhe zu füllen, der zuvor nur von den Spielgeräuschen Philipps unterbrochen wurde.

   „Es stimmt, Sina. Es ist nicht richtig, dass wir nur in der Zeit rund um Weihnachten ein anderes Verhalten an den Tag legen. Wir sollten doch tagtäglich miteinander wertschätzend umgehen, einen Blick für unsere Mitmenschen haben und Verständnis und Mitgefühl zeigen.“

   Die Mutter holte tief Luft.

   „Aber das fällt uns Menschen nicht immer so leicht. Leider“, erklärte sie schließlich. „Eigentlich könnten deine beiden Omas auch öfter bei uns zu Besuch sein, ich öfters für sie kochen. Aber nur die Weihnachtsfeiertage sind gesetzt, dass dies auch passiert.“

   Die beiden älteren Damen nahmen diese Worte bewegt auf. Fast gleichzeitig senkten sie den Blick und ihre Ergriffenheit war spürbar.

   „Ebenso haben dein Vater und ich uns die letzten Tage oft in den Haaren gehabt. Vor drei Tagen am Supermarkt haben Philipp und du es ja mitbekommen, wie wir uns angemeckert haben. Es ging dabei um die Vorbereitung für das Weihnachtsfest, was doch etwas Wunderbares ist. Wir aber haben uns gestritten, was gemacht wird und wer sich kümmert. Verrückt, oder?“

   Sina nickte.

   „Und natürlich sollte uns der Bettler nicht nur heute Anlass geben, ihm zu helfen. Auch zu anderen Zeiten sollten wir den Blick für Menschen in Not haben. Das stimmt wohl.“

    Die Mutter nahm ihre Tochter noch fester in den Arm.

   „Aber weißt Du was? Ich finde nicht, dass es deshalb unehrlich oder gar verlogen ist, wenn wir an Weihnachten besonders liebevoll miteinander umgehen wollen.“

    „Nein?“, wirkte Sina noch wenig überzeugt.

    „Nein, das finde ich nicht. Denn wenn es Menschen auch nicht gelingt, im Alltag stets Mitmenschlichkeit zu leben, nehme ich es als Zeichen der Hoffnung, dass es doch rund um Weihnachten besser gelingen kann.“

   „Du meinst, weniger ist besser, als gar nichts?“, hakte die Neunjährige nach.

   Die Mutter musste lachen.

   „Ja, so kann man es sagen“, antwortete sie. „Es mag Menschen wie das Ehepaar Schröder geben, die die Dinge so sehen. Dass es sich nicht schickt, nur wegen Weihnachten auf diese oder jene Weise zu agieren. Aber ebenso können wir es als ein wunderbares Zeichen sehen. Dass es Menschen gelingt, wegen Weihnachten ihr Verhalten zu verändern. Und daraus können wir doch die Hoffnung schöpfen, dass es irgendwann auch immer öfter zu anderen Zeiten mehr Menschlichkeit geben kann?“

   Sina nickte.

   Sie dachte über die Worte ihrer Mutter nach.

    Und es hörte sich gut an.

    Es war aus dieser veränderten Sichtweise tatsächlich eher ein Zeichen der Hoffnung – und wirkte gar nicht mehr so unehrlich oder gar verlogen.

   „Ich glaube, ich habe verstanden“, meinte Sina und drückte ihre Mutter ganz fest.

   „Das freut mich. Und weißt Du was?“

   „Was denn?“

   „Auch wir Großen haben verstanden, dank Deiner Gedanken“, und noch während die Mutter sprach, wandte sie sich der Gruppe der Großen am Esstisch zu.

   „Sagt mal, ihr beiden Omas, was haltet ihr davon, wenn ihr dieses Jahr auch zum ersten Mal zu uns zum Neujahrbrunch kommt? Eine gute Gelegenheit, um für das neue Jahr weitere Termine abzustimmen.“

   Die beiden älteren Damen freuten sich sichtlich und ihr stummes Nicken zeugte von ihrer Bewegtheit.

   Und so wurde es allen klar:

   Die besondere Verbundenheit zu den weihnachtlichen Festtagen war keine Verlogenheit, sondern eher der Türöffner für eine bessere Welt.

   Wenn wir bereit sind, uns darauf einzulassen.
                                                                                                                                            (Frank Neumann)

In diesem Sinne ein frohes Weihnachtsfest 2017!