Vor der "Stillen Nacht" heißt es "Auge um Auge, Zahn um Zahn"

„Entschuldigen Sie mal! Ich stelle mich hier gerade an“, faucht die ältere Dame.

   „Das stimmt wohl, Sie stellen sich wirklich an!“, kommt postwendend die Antwort des Mitvierzigers.

   „Aber ich war vor Ihnen hier an der Glühweinbude“, verteidigt sich die resolute Dame und fährt die Ellenbogen aus.

   „Na dann bestellen Sie doch endlich, verdammt nochmals“, zieht sich der Mann zurück.

 

… ein in dieser oder ähnliche Weise geführtes Gespräch, begegnet einem oft zu dieser Jahreszeit.

   Auf vielen Weihnachtsmärkten.

   In vielen Städten Deutschlands.

   Aber damit nicht genug! Der vorweihnachtliche Stress und die zusehends gefühlte JahresENDzeit begrenzen sich längst nicht auf die traditionellen Örtlichkeiten vorweihnachtlichen Treibens. Auch in Geschäften, an Bahnhöfen, in den Fußgängerzonen und Einkaufspassagen sowie im Straßenverkehr liegen die Nerven blank. Kurzum überall dort, wo Menschen vermehrt aufeinander treffen.

   Dabei lohnt es sich an dieser Stelle festzuhalten, dass wir per se nicht das Völkchen sind, das mit übersprudelnder Freundlichkeit oder Entgegenkommen miteinander umgeht oder so wahnsinnig gerne aufeinander hockt. Dazu passt das (vermeintliche) Vorurteil vom ewig grummeligen bis unfreundlichen Deutschen, der an allen Stränden dieser Welt das allgemein gültige germanische Verhalten zeigt, sein Handtuch stets weit, weit weg von allen übrigen Badeurlaubern zu platzieren. Viele von uns halten scheinbar lieber Abstand zu ihren Mitmenschen. Je weniger sie mit ihnen zu tun haben, umso besser. So erweckt es jedenfalls oft genug den Anschein.

   Damit sind wir aber schon direkt bei der Krux der aktuellen Zeit:

   Es ist in dieser Vorweihnachtszeit schlichtweg unmöglich, seinen Mitmenschen aus dem Weg zu gehen, weil wir uns in allen Ballungszentren permanent auf die Füße treten!

   Infolgedessen steigt das Aggressionspotenzial ex orbitant, müssen wir doch mit einer Situation klarkommen, die unseren ur- eigenen Instinkten, zuwider ist. Folglich wird der Ton rauer, die Rücksichtnahme weniger und egal wer, wann, wo dran war oder ist - jeder ist immer der Erste!

   Lange Zeit wollte ich mich dagegen sträuben und legte mich ins Zeug, mir Freundlichkeit und Rücksichtnahme zu bewahren. Zumal es voranzustellen gilt, dass ich dazu ein wirklicher Weihnachtsfan bin. Während viele in meinem Umfeld unter der Last der anstehenden Feiertage stöhnen (zu viele Termine, viel zu viel einzukaufen, zu viel Verwandtschaft und zu viel Völlerei), wächst meine Freude fast täglich:

   Voller Neugierde bin ich abends beim Heimkommen gespannt, welchen Fund aus dem Adventskalender mir mein Sohn diesmal präsentiert. In den Geschäften suche ich voller Elan Präsente aus, achte akribisch auf die perfekte farbliche Abstimmung von Geschenkband und Geschenkpapier und genieße sowohl die Momente auf dem Weihnachtsmarkt, als auch bei (den für mich) typischen Weihnachtsfilmen.

   Damit bin ich für viele dieser Tage so etwas wie ein Weihnachts-Monk- irgendwie anders und komisch (also noch komischer als sonst).

   Als vor einer Woche, der mir in der U-Bahn gegenüber sitzende Fahrgast nieste, ich daraufhin unverhohlen Gesundheit wünschte, hätte es sich gelohnt dabei zu sein. Fassungslose Blicke trafen mich und in der Bahn war die Irritation fast greifbar, was sowas denn wohl sollte. Jedermann scheint gestresst und genervt und dann so was? Auf die Spitze getrieben könnte man meinen:

   Ein Mensch, der ein Blick für seine Mitmenschen hat und das in dieser Zeit!? Das geht ja mal gar nicht!

   Genau dieser Gedanke ist es aber, der mich dieser Tage so bewegt. Besonders als ich Anfang dieser Woche erkennen musste, dass diese fehlende Rücksichtnahme und das egoistische Treiben langsam auf mich abzufärben scheint.

   Wie ein Virus, das unvermeidlich um sich greift und dem gerade mal so lange widerstanden werden kann, wie die innere Abwehr an Ruhe und Gelassenheit ausreichend gut aufgestellt ist.

   Aber weil bei so vielen Menschen im Beruf, in der Familie oder sonst wo, zum Jahresende so viel zu bedenken und zu erledigen ist, schwächelt diese Abwehr.

   Gelassenheit kommt von „lassen“.

   Wo bitteschön soll dieser Tage aber „losgelassen“ werden?

   Wenn tagtäglich erlebbar ist, wie sich an der Kasse vorgedrängelt wird, sich beinahe tumultartige Szenen einstellen, sobald länger angestanden werden muss oder Bon samt Wechselgeld nicht zügig genug ausgegeben wurden. Oder wenn beim Einstieg in den Zug sich die meisten doch an der älteren Dame mit ihrem schweren Gepäck eher vorbeizwängen statt Hilfe anzubieten und wenn die Blessuren schon nicht mehr gezählt werden können, die von all den Taschen und Rucksäcken stammten, die einem in die Seite, ins Gesicht oder sonst wohin geschoben werden… dann greift die Mutation (wie in manch populärer Zombie-Serie) zwangsläufig und zügig um sich. Nur wird man nicht zum Zombie, sondern zum Ar… ich meine natürlich: Egomanen!

 

Aber immer wenn das Verlangen in mir aufkommt, mich in gleicher Weise zu verhalten, wie ich es dieser Tage allzu oft erlebe, mahne ich mich bewusst Ruhe. Wenn ich liebend gerne mit der mir gegebenen Körpermasse mal zurückdrängeln möchte und dabei manch einen vom Bahnsteig fegen würde, erinnere ich mich daran, dass ich diese Metamorphose zu Egomanen um Gotteswillen nicht durchleben möchte.

   Das mag zusehends schwerer fallen, je mehr Menschen von diesem Egomanen-Virus infiziert sind. Letztlich weigere ich mich aber zu akzeptieren, dass gerade die Weihnachtszeit auch noch durch das kaputt gemacht wird, was schon an so vielen anderen Stellen die Lebensqualität einschränkt: Hast und Hektik!

   Jeder mag zu dem Weihnachtsfest stehen, wie er will und den ganz persönlichen Zugang dazu haben. Nicht für jeden hat es die besondere religiöse Bedeutung oder ist zwangsläufig ein Familienfest.

   Aber es lohnt sich, sich daran zu erinnern, als was die nahenden

Feiertage in vielen Teilen der Welt gesehen werden:

   Als das Fest der Liebe.

   Erinnern wir uns daran und wägen ab, was einem liebevollen Umgang eher entspricht (das Vordrängeln oder Tür aufhalten, ein freundliches Lächeln oder das mürrische Knurren usw.), mag es gelingen, sich gegen den grassierenden Virus zu behaupten.

   Und wer weiß, vielleicht gelingt es so, einige der infizierten Mitmenschen zur Genesung zu verhelfen? Mit dem Mut, als Weihnachts-Monk zu agieren oder als Sonderling (wie ich in der U-Bahn beim Nieser) einfach auch mal Fremden offen und freundlich zu begegnen, mag dies vielleicht gelingen.

  

So wünsche ich für die letzten vorweihnachtlichen Tage gutes Gelingen, gute „Abwehrkräfte“ und mehr Freude als Stress im Herzen!